Als ich während meiner Wanderung den Harz erreiche, brennt es auf dem Brocken. Wenige Kilometer oberhalb meiner Unterkunft in Schierke. Die Einsatzleitung der Feuerwehr kann ich vom Fenster aus beobachten. „Für den Ort besteht keine Gefahr“, wird mir auf Nachfrage versichert. Rauchschwaden ziehen ums Hotel. Hauchdünn, aber nicht zu übersehen.

Das seltsam ferne, nahe Feuer erinnert mich an die Gründe meines Hierseins. Wie Berlin ist auch der Harz, insbesondere auf der östlichen Seite, von der deutsch-deutschen Teilung geprägt. Das Anderssein lebt in den Menschen fort.

Mit zwei von ihnen – einem Ex-DDR-Grenzsoldaten und einer Bewohnerin des ehemaligen Sperrgebietes – bin ich in Schierke verabredet.

Dietmar Schultke hat bei den DDR-Grenztruppen den sogenannten Grundwehrdienst geleistet. Die im Harz verbrachten achtzehn Monate treiben ihn weiterhin um. Der gebürtige Spreewälder hält darüber Vorträge, schreibt Artikel. Auch in einem Buch hat er seine Militärzeit verarbeitet („Keiner kommt durch“). Ich habe ihn für diesen Exkursionstag offiziell gebucht.

Während wir am Morgen auf eine teilnehmende Schülergruppe warten, rasen Polizeifahrzeuge und Feuerwehren durch den Ort. „Das Sirenengeheul erinnert mich an die ständigen Alarme damals, die Trillerpfeifen, das hemmungslose Brüllen der Offiziere.“ 
Dass er solche Déjà-vus zulässt und ausspricht, macht ihn zu einem idealen Zeitzeugen. Die Jugendlichen hängen sofort an seinen Lippen.

Nach der Einführung wechseln wir in den Nachbarort Elend, versammeln uns vor Schultkes einstiger Kaserne. Das Gebäude verfällt. Auf dem verrammelten Gelände, das wie ein überwucherter Schrottplatz anmutet, weiden Schafe. Schultke zeigt auf eine Stelle hinter dem Tor. Dort befand sich der Schlagbaum, an dem er Wache schieben musste. Wenn er sich, wie jetzt, redend in diese Zeit hineinbegibt, dann beginnt dieser große Mann zu tänzeln. Dann wird er auf faszinierende Weise biegsam. Vor allem langweilt er sein Publikum nicht mit staubtrockenen Statistiken. Nur das Notwendigste lässt er einfließen: „Die innerdeutsche Grenze hatte eine Gesamtlänge von 1.400 Kilometern“.

Was den Jugendlichen erst einen Zugang zu diesem lange vergangenen Irrwitz ermöglicht, sind Schultkes persönliche Erinnerungen.                

Beispielsweise erzählt er, wie er zum ersten Mal einen „Grenzverletzer“ zu Gesicht bekam. „Ich sah, wie sie ihn in den Verhörraum schleiften. Im Grunde habe ich erst in diesem Moment begriffen, wo ich bin, wozu das alles da ist.“

Schultke war neunzehn Jahre alt, kaum älter als seine jugendlichen Zuhörer heute. Dass er den Mut hat, zuzugeben, damals mit völlig naiven Vorstellungen auf die falsche Seite geraten zu sein, macht seine Schilderungen zusätzlich spannend. „Eigentlich wollte ich selbst abhauen. Bis zur Rente in der DDR zu versauern, war ein unerträglicher Gedanke. Ich hatte eine Brieffreundin in New York und träumte davon, Amerika zu bereisen.“  

„Und“, frage ich ihn, „eröffnete sich irgendwann ein Schlupfloch? Gab es den Moment der Versuchung?“

„Den gab es. An einem Sonntagnachmittag entdeckte ich ein Loch im ersten Zaunabschnitt. Die Sonne schien. Der Wurmberg auf der Westseite lag zum Greifen nah. Aber sollte ich meinem Postenführer Waffe und Sprechfunkgerät abnehmen? Der mir durchaus sympathische Kamerad wäre eingesperrt worden, hätte nicht studieren können. Sollte ich ihn etwa erschießen? So sehr Amerika lockte, das kam nicht in Frage.“

Ein Mädchen wirft ein, sie fände es „krass“, dass man unter solchen Verhältnissen offenbar niemandem vertrauen konnte. „Hat sich das nicht auf die Psyche ausgewirkt!?“

Der Ex-Grenzsoldat nickt. Um seine Lehrstunde aufzulockern, setzt er Anschauungsmaterial ein. So lässt er reihum ein Original-Käppi aufsetzen. Und wenn er die Rituale der „EK-Bewegung“ erläutert, tut er dies an Hand eines mitgebrachten Dienstkoppels. Er deutet an, wie sich die Soldaten damit gegenseitig versohlten.

Ich bewundere, wie gut Schultke darin ist, aus seiner tiefsitzenden Aversion didaktisch Kapital zu schlagen. Manche Anekdoten erzählt er so lebhaft, dass er sie fast nachspielt. Selbst wenn er faktische Zusammenhänge erläutert, bezieht er die Jugendlichen mit ein und versucht das Konzept des DDR-Grenzsystems in ihre Vorstellungen zu übersetzen.

In diesem Video erklärt er die Staffelung der verschiedenen, vorgelagerten Grenzabschnitte:

Und hier stellt er mit einem der Schüler nach, wie laut Dienstvorschrift auf eine „Grenzverletzung“ hätte reagiert werden müssen.

Schultke war auch Hundeführer. Wir stehen unmittelbar vor den Hunde-Laufanlagen des ehemaligen Grenzzaunes. Als er ein Foto der ihm damals auf Postengängen zugeteilten Schäferhündin zeigt, geht ein begeistertes Raunen durch die Schülergruppe.

„Meine Hündin hieß Nena vom Brockenblick und war für diese Art Dienst zu gutmütig. Bei den vorgeschriebenen Übungen wollte sie nie jemandem in den Arm beißen. Das war ein Problem“, sagt Schultke und erntet weitere „Aahs“ und „Oohs“.

Er führt aus, dass bei den DDR-Grenztruppen 1989 etwa dreitausend Hunde im Einsatz waren. Ihre erbärmliche Behandlung empört die Jugendlichen. Es bringt sie augenscheinlich mehr aus der Fassung als das zuvor Gehörte „So kann man doch mit Tieren nicht umgehen!“, ruft ein Mädchen.
„Doch, dieses System konnte das!“, erwidert Schultke lapidar.

In diesem Video berichtet er allgemein vom Schicksal der Hunde in den Laufanlagen:

Hier schildert er einen konkreten Fall des Umgangs mit Diensthunden:

 

Eine ganz andere Facette des Lebens unter den Bedingungen der Teilung und Überwachung lerne ich bei Hannelore Lichtenfeld in Schierke kennen. Die 75-jährige Witwe ist die Mutter eines Bekannten. Wir sind uns vorher noch nie begegnet. Hannelore Lichtenfeld ist nicht ihr wirklicher Name. Sie berichtet mir mit so gnadenloser Offenheit, wie es damals für sie gewesen ist, im „Sperrgebiet“ zu wohnen, dass ich ihre Identität besser schütze. Der folgende Text wird ohne Foto auskommen. Nur einige Passagen des Audiomitschnitts werde ich mit Frau Lichtenfelds Zustimmung hier veröffentlichen.

Im Oktober 1973 kam sie als Schwesternschülerin im Rahmen eines Gewerkschafts-Urlaubes in den Harz. Sie war 19 Jahre alt. „Nach der Ankunft musste ich wie alle Urlauber den Ausweis abgeben. Bei einer zentralen Einweisung erklärte man uns, dass hier besondere Regeln gälten. Dass wir uns im Sperrgebiet befänden. Da hörte ich den Begriff zum allerersten Mal.“

Während eines Spaziergangs durch Schierke lernte Frau Lichtenfeld ihren späteren Mann kennen. „Er stand hinter dem Gartenzaun. Wir lächelten uns zu. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein halbes Jahr später heirateten wir und ich zog ins Sperrgebiet. Ohne die geringste Ahnung, was das bedeuten würde.“

Frau Lichtenfeld ist eine kommunikative, springlebendige Rentnerin. Schon bald möchte sie mir ihren Steingarten zeigen. Wir kraxeln den blumenbunten Hang hinauf bis zu ihrer Lieblingsbank, von der man weit über Schierke hinausblicken kann. Sich in so idyllischer Lage über Bespitzelung, Enge und Überwachung zu unterhalten, ist ein harter Kontrast. Aber die Schilderungen meiner Gesprächspartnerin lassen alles andere zurücktreten. Es geht darin um den begehrten Stempel im Passierschein, den Einwohner von Schierke einmal im Jahr erneuern lassen mussten. Es geht um die Auflage, jegliche Leitern über Nacht anzuschließen. Es geht um die Notwendigkeit, private Besuche offiziell anzumelden und im sogenannten „Hausbuch“ einzutragen. Es geht in diesen Geschichten um den von Sicherheitsauflagen bestimmten Alltag in einer grenznahen Zone der DDR. Gewissermaßen geht es darin um ein Leben im Herzen der Diktatur. Auch wenn Frau Lichtenfeld pointiert erzählt und mich immer wieder zum Lachen bringt. Die Anspannung wirkt nach. Das Ungeheuerliche ist nicht vergangen.            

Frau Lichtenfeld und ihr Mann bekamen zwei Kinder. Ein intaktes Familienleben, eine gewisse Zufriedenheit hätte helfen können, die klaustrophobischen Umstände zu ertragen, ließe sich vermuten. Wie ich mir erklären lasse, trat das Gegenteil ein. „Ich wollte, dass unsere Kinder selbstständig denkende Menschen werden. Sie sollten Dinge nicht hinnehmen, sondern Fragen stellen und sich selbst ein Bild machen können. An der hiesigen Schule, mit diesen ausgesucht staatstreuen Lehrern war dies unmöglich.“

Frau Lichtenfeld fing an, in dem kleinen Handwerksbetrieb ihres Mannes zu arbeiten. Sie führte dessen Büro, engagierte sich in der Kirchengemeinde, eröffnete ein Lebensmittelgeschäft. Sie tat alles, um sich zu arrangieren und anzupassen. „Aber das Gefühl von Enge und Fremdheit wollte nicht weichen. Irgendwann sagte ich zu meinem Mann, der von hier stammte und seinen Harz nie verlassen würde – ich halte den ganzen Wahnsinn nicht länger aus. Ich muss hier weg.“             

Wie beeindruckend! Wie erschreckend!, denke ich beim Zurückgehen zum Hotel. Über Schierke kreisen die Hubschrauber. Feuerwehren fahren an mir vorbei Richtung Brocken.

Die Brände dort oben werden gelöscht werden können.