Seit vielen Jahren schwimme ich auch im Winter draußen. Ich tue dies nahezu täglich, drehe meine Runden in Badehose und mit Wollmütze. Meist im „Pucher Meer“, einer Kiesgrube in Fürstenfeldbruck, gelegentlich im Ammersee. Und wenn sich bei Frost erste Eiskristalle bilden, weiche ich an die zuverlässig strömende Amper aus. Es ist ein Ritual, das zu mir gehört, mit dem ich verwachsen scheine. Aus Gründen, die nicht einfach zu erklären sind, ziehe ich mir diesen „kalten Mantel“ über.       

Februar 1985

Von Ostberlin aus war ich auf Klassenfahrt in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Ich war siebzehn und verliebt in eine Mitschülerin, die meine Gefühle nicht erwiderte.

An das prächtige „Venedig des Nordens“ erinnere ich mich kaum. Wie vor den Kopf geschlagen trottete ich durch verschneite Straßen, sah mehr nach innen als nach außen, wollte das Chaos in mir loswerden und wusste nicht wie. Irgendwann spazierten wir am Ufer der Newa entlang. Und ich beobachtete zum ersten Mal Winterschwimmer. Seriös wirkende Sowjetbürger legten bei Minusgraden ihre Kleidung ab, glitten in ein freigehacktes Eisbecken mitten im Fluss. Hinterher waren ihre Körper krebsrot, hüpften sie herum, wedelten mit den Handtüchern. Das Ganze wirkte so ansteckend fröhlich, so surreal, dass ich es (trotz der Verbots-Rufe meines Klassenlehrers) sofort ausprobierte.

Dirk Brauns auf dem Eis

Eine andere Saison

Spätestens seit Corona sind Kaltwasser-Exerzitien im Trend. Nicht nur an Wochenenden stehen Menschen mit hoch erhobenen Armen im Wasser oder wagen sich weiter hinaus. Galt ich früher als Freak, als „lebensmüder Spinner“, über den Spaziergänger die Köpfe schüttelten oder voller Sorge auch mal die Feuerwehr alarmieren wollten (tatsächlich passiert!), dann höre ich nun vermehrt das Wort „Respekt“. Man fragt mich, jovial augenzwinkernd, ob mir nicht kalt sei und dergleichen.

Außergewöhnlich war die Saison 2024/25 für mich aber dadurch, dass ich als „Coach“ für zwei Volkshochschulen erstmals Interessierte ins Wasser führte. Und dann, bei jeweils einem Treffen pro Woche, gemeinsam mit ihnen durch diesen Winter schwamm.   

Verantwortung

Zum Thema findet sich vieles im Netz: Physiologische und mentale Aspekte. Medizinisches Für und Wider. Mit der Popularität einhergehende Lifestyle-Konzepte…

Mir geht es in diesem Text um meine fünf Monate mit „Winterschwimm-Neulingen“, um geteilte Erfahrungen, vor allem um die Aha-Effekte des Experimentes.

Damit stehe ich praktisch schon mit einer Gruppe auf dem Gemeindesteg in Schondorf. Über uns grauer Himmel. Unter uns, schimmernd zwischen den Holzplanken, der an diesem Tag 9 Grad kalte Ammersee.
Zwölf Mutige – etwas mehr Frauen als Männer – haben sich eine Woche zuvor theoretisch einstimmen lassen. Wie wird man mit der Angst vor dem ersten Schwimmgang fertig? Wie kann das Schnappatmen vermieden werden? Wie lässt sich der Atem überhaupt kontrollieren, wie Panik verhindern? Mit Blick auf vergleichbare Situationen habe ich zu schildern versucht, wie man mit extremem Druck fertig wird, wie man etwa einem ersten Fallschirmsprung entgegenfiebert und sich dennoch auf Abläufe fokussieren und Emotionen in Schach halten kann.

Während der Kennenlernstunde, im Neonlicht des Seminarraumes, wollte ich mir von diesen Menschen ein Bild machen. Ich stellte mir vor, wie jeder Einzelne reagieren würde. Und bin mir, durchaus erschrocken, spätestens da meiner Verantwortung bewusst geworden.

Gruppendynamik  

Soweit ich weiß, gibt es noch keine Didaktik des Winterschwimmens. Angesichts der wachsenden Beliebtheit dieser Freizeitaktivität dürfte die Einführung eines deutschen Winterschwimm-Gesetzwerkes aber nur eine Frage der Zeit sein. 😊

Im Herbst 2024 war ich diesbezüglich auf mich gestellt. Und damit glücklich.

Als Rettungsschwimmer habe ich die Schwimmbereiche vor allem nach Sicherheitskriterien ausgewählt. Mir war wichtig, dass die Teilnehmer zur Not abbrechen und zurückwaten konnten. Deshalb bin ich die Strecken vorher abgeschwommen und abgelaufen. Ich habe Zeiten genommen und erwogen, zur Orientierung Bojen in den Grund zu rammen, dann aber doch schon vorhandene Markierungspunkte genutzt. Nicht zuletzt habe ich den Mobilfunkempfang überprüft.

Und damit zurück auf den Steg:

Weiterhin stehen dort zwölf Menschen in Badekleidung, aufgereiht vor der Treppe, um sich gleich erstmals der Kälte auszusetzen. Ich warte im Wasser auf sie, erinnere an kontrolliertes Atmen und zügiges Hineingehen. Im Unterschied zur Premieren-Gruppe am Vortag verhindert die Situation auf dem Steg, dass alle gleichzeitig starten. Das hat am Ufer gestern hervorragend funktioniert und mich auf etwas gebracht, was ich so nicht erwartet hätte: der befreiende Effekt des Gemeinsam-Tuns, der Gruppendynamik. Doch auch unter diesen Umständen klappt es, nur anders. Während die ersten eintauchen und losschwimmen, ruft die junge Frau am Ende der Schlange: „Warum schreit denn keiner? Oh, mein Gott, keiner von denen schreit!“ Und als sie nach einer langen Warteminute selbst an der Reihe ist, bleibt auch sie wunderbar ruhig.            

 

 

Wer sind diese Menschen?

Das Beste an diesem Schwimmwinter waren die Begegnungen. Wohl jedes Hobby, jede halbwegs gewollte Tätigkeit zieht einen bestimmten Menschenschlag an. Ich möchte behaupten: die Teilnehmer meiner Kurse waren vor allem neugierig. Neugierige zwischen Anfang zwanzig und Ende sechzig, aus ganz unterschiedlichen Milieus und Berufsgruppen. Von der Kochbuchautorin, der Wachschützerin, der pensionierten Bauingenieurin, der Studentin, dem Experten für Autoschiebedächer bis hin zum Handelskaufmann, um nur einige herauszugreifen.
Die Umstände unserer Treffen wie raues Wetter, das gemeinsame Teetrinken zu Beginn, das Aufwärmprogramm, die primitive Umkleide-Situation, vor allem aber das Schwimmen selbst, das Frieren danach und der Austausch über diese Erlebnisse, stifteten Nähe. Irgendwann fragte ich mich, weshalb mir alle so sympathisch waren. Machte ich mir etwas vor? War das kalte Wasser mir schon zu Kopf gestiegen? Misstrauisch wollte ich genauer hinschauen, genauer hinhören. Aber es blieb dabei. Fantastische Leute, diese Winterschwimmer!         

Zwei Minuten Hoffnung

Starke Kälte zu empfinden, sich ihr zu öffnen, bleibt etwas Unangenehmes. Es ist furchtbar, diese Kraft zu spüren. Zu erleben, wie sie alles andere wegbrennt. Im drei Grad kalten Wasser gibt es, zumindest am Anfang, nur drei Grad kaltes Wasser. Das ist es, was einen beschäftigt, was einen erfüllt.

Und doch existiert auch hier, im unwirtlichen Extrem, eine Art Hoffnung. Man kann auf sie zählen, muss nur durchhalten. Es ist das, was ich die „Zwei-Minuten-Gewissheit“ nenne und denen, die es probieren wollen, mit auf den Weg gebe. Nach etwa zwei Minuten – individuelle, minimale Abweichungen treten natürlich auf – gewöhnt sich der Körper, fühlt es sich plötzlich besser an. Es ist eine Gefühlssensation, ein Kaltwassergeschenk, das ohne eigene Erfahrung nur schwer zu glauben ist. Aber genau so passiert es. Auch bei Ungeübten. Ich habe mir die überbordende Freude, die Euphorie vieler Teilnehmer nach dem ersten Mal auch damit erklärt. Sie sind nicht nur über sich hinausgewachsen, sie wurden auch direkt belohnt.

Persönliche Geschichten

Was ich in den vergangenen Monaten erleben durfte, hat mich oft gefreut und berührt. Zum Saisonende habe ich versucht, dies mit einigen Interviews noch einmal einzufangen.

Birgit hatte mir nach den ersten Wochen gestanden, dass sie Angst vor dem Schwimmen hätte. Angst bereits am Vorabend und erst recht und sich steigernd während der Anfahrten. Wie sie im Video erläutert, ist sie durch diesen Zustand „hindurchgegangen“, hat sie die Angst jedes Mal überwunden, bis, wie sie sagt „eine fette Portion mentale Stärke übrigblieb“.

Heidi war mir durch ihre Nachdenklichkeit aufgefallen war. Die bald Siebzigjährige ging vor jedem Schwimmgang regelrecht mit sich ins Gericht. Oft war sie als Erste vor Ort und zweifelte dann sogar an ihrer Fähigkeit, überhaupt schwimmen zu können. Dass es ihr fast immer gelang, dass sie für sich selbst „Schwimmrekorde“ aufstellte und dabei keineswegs verbissen wirkte, war für uns alle schön.
Im Interview spricht sie über ihr Ringen mit sich, über ihren Wunsch „sich anzuerkennen“. Sie konstatiert, durch das Winterschwimmen ein halbes Jahr „Outdoor-Zeit“ hinzugewonnen zu haben. 

Uli schließlich hat keinen meiner Kurse belegt. Der sportliche Rentner ist für mich eine winterschwimmende Legende. Wir haben uns vor sechs Jahren an der Amper in Grafrath kennengelernt. Dort, unweit des Biberbaus, schwimmt er jeden Morgen. Auch bei minus zwanzig Grad, wenn die nasse Badehose sofort auf den Steinen festfriert.

Gesundheit

Winterschwimmen bleibt eine Grenzüberschreitung. Defacto ist es Extremsport und für Menschen mit Herzbeschwerden oder Bluthochdruck ungeeignet.
Für mich hat es sich als eine leicht zu beschaffene Arznei erwiesen. Ich leide seltener als früher unter Erkältungskrankheiten, schlafe gut und freue mich am Ende jedes Sommers wie ein Kind auf die dunkle, kalte Jahreszeit. Wissenschaftliche Studien*, die solch positive Effekte untersuchen, zeichnen ein unklares Bild. Was beispielsweise die Stärkung des Immunsystems angeht, wird eine „eher anekdotische Evidenz“ festgestellt.

Und tatsächlich war die Erkältungsrate unter den Kursteilnehmern erstaunlich hoch. Weshalb, vermag ich nicht zu sagen. Fehlte die Gewohnheit? Reicht ein Schwimmgang pro Woche nicht aus? Sicher spielen auch Vorerkrankungen und Lebensweise eine Rolle. Umso mehr freute mich, wie beispielsweise Denise, die anfangs mit Kreislaufproblemen und Übelkeit zu kämpfen hatte, sich nach und nach gewöhnte. Im Video berichtet sie, wie sie ihr Zeitlimit fand und „welch großer Gewinn“ das Schwimmen mittlerweile für sie ist.           

Am Ende ein Hecht

Wenn man so herumschwimmt, geschieht durchaus Sonderbares. So bin ich in diesem Winter mehrfach einem Hecht begegnet. Er war über einen Meter lang und hatte einen charakteristischen weißen Fleck, (eine Muschel?) auf dem Rücken. Meist sah ich ihn unter einer überhängenden Birke reglos im Wasser stehen. Selbst wenn ich nur drei, vier Meter von ihm entfernt losschwamm, rührte er sich nicht vom Fleck. Als Kind habe ich leidenschaftlich gern geangelt und auch Hechte gefangen. Aber dieser Fisch kam mir von Anfang an besonders vor. Ich freute mich, ihn zu sehen, redete auch mit ihm und verriet den Anglern, die überall auf ihren Hockern saßen, nie, wo er war.

Nur meine Frau wusste Bescheid, hegte aber gewisse Zweifel.
An einem Samstagmorgen begleitete sie mich. Und mein Hecht war zur Stelle, unmittelbar am Ufer. Offenbar schlief er noch. Jedenfalls hatte er keine Körperspannung, lag mit durchhängendem Bauch in einer Kuhle. Meine Frau wollte ihn fotografieren, trat näher. Wodurch er aufwachte und sehr verärgert – wie ich als Hechtflüsterer natürlich erkannte – Richtung Seemitte davonschoss.   

* In: „Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin“: Effekte von Kaltwasserschwimmen und Eisbaden