Eine 700 Kilometer-Wanderung von München nach Berlin scheint zunächst eines zu sein: unnötig. Als ich diese Strecke 1995 (da war ich siebenundzwanzig) erstmals zu Fuß bewältigte, machte ich Station bei Verwandten in Thüringen. Bis heute erinnere ich mich an die Frage meines Onkels: „Wann wirst du eigentlich erwachsen?“.

Mittlerweile bin ich sechsundfünfzig. Tagelanges Gehen, habe ich wieder festgestellt, ist eigenartig erfüllend. Als würde man eine vergessene Kraft entdecken. Manche Landschaften, einige Momente in der Natur brachten mich ins Schwärmen. Handyaufnahmen wie zum Beispiel diese aus einem Wald in der Oberpfalz sind mir beinahe peinlich, aber sie gehören dazu:  

Gerade die Abwegigkeit, die blinzelnde Zufälligkeit dieser Reise wirkten befreiend. Es liegt mir fern, daraus eine Lehre zu zimmern und jemand zum Wandern, zum Losgehen ins Offene, bekehren zu wollen. Aber mich haben diese fünf Wochen selbstbewusster gemacht. Fröhlicher, widerständiger. Und damit, lieber Onkel in Thüringen, wohl auch erwachsener.

Wenn ich an die unzähligen Begegnungen denke und nach einer Gemeinsamkeit suche, einem mehr oder weniger bei allen Gesprächspartnern zu Tage tretenden Bedürfnis, dann war es das Bedürfnis nach Sinn.  

Ich kann das nicht an Themen festmachen. Die sich an Straßen- und Wegesrändern ergebenden Unterhaltungen blieben meist vordergründig. Aber hinter dem Austausch über (mein) Notwendigstes – Orientierung, Essen, Schlafen, Wetteraussichten… – war etwas Anderes spürbar. Es sprach aus dem jeweiligen Gegenüber, selbst wenn darüber kein Wort verloren wurde. Es umgab sie oder ihn wie ein Geruch. Um in diesem Bild zu bleiben, rochen die Klagenden und Anklagenden, denen ich begegnete, eher säuerlich. Und die mit ihrem Leben Zufriedenen eher frisch.

Auf meiner Reise kam ich zweimal mit der „Institution Kirche“ in Kontakt, der Instanz also, die in unserem Kulturraum lange das Monopol auf korrekte Lebensführung innehatte.

Das erste Mal ergab sich ungeplant. Nach einem extrem heißen Wandertag kam ich im Benediktinerkloster Werningshausen unter, wo mir um einundzwanzig Uhr ein wunderbares Abendbrot serviert wurde. Am Morgen unterhielt ich mich mit einem der Mönche, Bruder Klaus. Im Innenhof des Klosters erläuterte mir dieser sympathisch zugewandte Geistliche seinen „Masterplan“, wie er sich ausdrückte:

„Mit Gottvertrauen fällt das Leben leichter. Darauf zu bauen, in ein großes, fügendes Ganzes eingebettet zu sein, lässt einen auch Rückschläge gelassen hinnehmen. Für den Gläubigen ist nichts sinnlos oder umsonst.“

Bruder Klaus

Daran musste ich Tage später denken. Es war der Abend des 14. September. Mit ein paar anderen saß ich in der St. Thomas Kirche Pretzien in Sachsen-Anhalt, um ein besonderes Phänomen zu erleben.

St. Thomas Kirche Pretzien

Einmal im Jahr und auch dann nur bei klarem Himmel wandert das Abendlicht in dieser 1150 errichteten Dorfkirche durch zwei originale Rundfenster langsam bis zum Altar hinauf. Ich hatte Glück und durfte verfolgen, wie sich die strahlend gelben Flecken auf dem Kirchenboden vorarbeiteten, wie sie sich dabei dehnten und zu zerfließen schienen. Um dann um Punkt 19 Uhr, mit den Glockenschlägen der Kirche, Jesus am Kreuz zu beleuchten.

Ich bin weder fromm noch empfänglich für transzendente Erscheinungen, aber dieses uralte, in der evangelischen Kirche nicht mehr begangene Ritual der „Kreuzerhöhung“ beeindruckte mich. Die Vorstellung, dass hier bereits im zwölften Jahrhundert Menschen am 14. September auf dieses Licht gehofft und es beobachtet hatten, war schwindelerregend. Natürlich freute ich mich, dass die Sonne es durch die Wolken geschafft hatte. Laut Vorhersage war das nicht zu erwarten gewesen. Aber was ich mit diesem Schauspiel anfangen sollte, wie ich es nicht nur gebannt betrachten, sondern auch erfassen und in eine mehr als zufällige Verbindung mit mir bringen könnte, das wusste ich nicht.

Zurück im Hotel erreichte mich dann der Videogruß eines katholischen Nachbarn und Freundes aus Adelshofen – dem Dorf in Oberbayern, in dem meine Familie und ich seit einigen Jahren wohnen.  

Was Heinz-Josef sagte, war keine Antwort. Zumindest keine Antwort auf die von mir an diesem 14. September stark empfundene Unbehaustheit. Das Gefühl einer gewissen, gesetzten Leere (gegen die ich auch mit dieser Wanderung anlief) war einfach da. Und hinzunehmen.  

Umso mehr berührte mich dieser Gruß. Auf dem verbleibenden Weg sah ich ihn mehrfach an. Dass Adelshofen darin als meine „Heimat“ bezeichnet wurde, fand ich als geborener Berliner kein bisschen irritierend.

Wir sind dort zu Hause, wo man uns vermisst.