Im letzten Sommer lernte ich die Politikerin Johanna Werner-Muggendorfer kennen. Die ausgebildete Sozialpädagogin ist Mitte siebzig und seit ihrem 22. Lebensjahr Mitglied der SPD. Fast drei Jahrzehnte war sie Abgeordnete im Bayerischen Landtag und befindet sich nun im „Ruhestand“. Ihre politischen Ämter (einige bekleidet sie weiter) und Ehrungen mag ich hier nicht aufzählen.

Für das, was ich sagen möchte, ist derlei zweitrangig. Mir geht es um den Menschen Johanna, um biografische Aspekte, um die knifflige, zugleich kleine und große Frage, wie jemand, der politische Verantwortung trägt, eigentlich charakterlich beschaffen sein sollte.

Als ich sie während meiner Deutschland-Wanderung kurz vor ihrem Wohnort Neustadt an der Donau anrief, kannte ich nur papierne Eckdaten. Bei einer in Niederbayern aktiven SPD-Frau rechnete ich mit einer gewissen Unangepasstheit. Schon am Telefon schlug mir daher laufendem Rucksack-Reporter eine ungeheure Freundlichkeit entgegen. „Wenn Sie noch keine Unterkunft haben, können Sie bei mir auf dem Wohnzimmersofa übernachten“, hörte ich sie vorschlagen und fühlte mich sofort willkommen geheißen.      

Ihr dann gegenüberzustehen, dieser quirligen Frau mit den weißgrauen Haaren über den Hof und ins Haus zu folgen, war kein umständlicher Akt des Kennenlernens, hatte nichts ausgestellt Höfliches. Beiläufig stellte sie ein paar Fragen, machte Bemerkungen zur Sommerhitze, zum im Schatten dösenden Husky ihres Enkels. Schon ging ich mit ihr die Treppe hinauf, bekam zum Glas Milch das „Du“ angeboten und durfte duschen.   
Das damalige Glücksinterview mit Johanna ist in meinem Blog zu finden.  

Johanna Werner-Muggendorfer

Wow, dachte ich, denke ich bis heute.

Johanna stammt aus sogenannten „einfachen Verhältnissen“. Ihre katholischen Eltern waren Hopfenbauern, die sich mit einem Molkereibetrieb und gelegentlichen Fuhrdiensten etwas hinzuverdienten. Was die im Niederbayern der fünfziger und sechziger Jahre aufwachsende Johanna davon abhielt, ausschließlich Ehefrau und Mutter werden zu wollen, erzählt sie am besten selbst:    

Es ist wohl diese entwaffnende Offenheit, eine Angewohnheit, bei sich selbst anzufangen, bei den Lehrbeispielen, auch den Unvollkommenheiten und Fehlern des eigenen Lebens, die Gespräche mit ihr so besonders machen. Und es ist mehr als Kommunikation. Diese 75-Jährige, denke ich irgendwann verblüfft, scheint tatsächlich einen Weg gefunden zu haben, geistig jung zu bleiben. Alltagsroutinen, allzu verfestigte Strukturen, das ganze innere und äußere Sicherheitspaket, zu dem Menschen im Alter neigen und an dem sie gleichzeitig leiden – diese Frau mag es offenkundig anders.

Als wir am ersten Abend ihren selbstgemachten Nudelsalat essen, gesellt sich eine Bekannte hinzu. Während die mit einer blütenweißen Bluse bekleidete Dame sich die Hände wäscht, raunt Johanna mir zu. „Sie ist ohne festen Wohnsitz und übernachtet meist in Bahnhofshallen und Zügen. Ich habe ihr jetzt mein Gästezimmer überlassen. Bitte sprich das nicht an! Die Arme schämt sich so.“

Und dann setzt sich das heimliche deutsche Elend zu uns an den Tisch, hat ein sehr blasses Gesicht, klappert dezent mit Messer und Gabel und bleibt ansonsten still. Erst später, da liege ich bereits auf dem Wohnzimmersofa, höre ich die beiden Frauen angeregt diskutieren. Es geht um hohe Bahnticketpreise, unerbittliche Schaffner, auch um Geld, das Johanna offenbar auslegt. Als ich am Morgen nachfrage, wird mir erklärt: „Manche behaupten, ich hätte ein Helfersyndrom. Aber das sehe ich anders. Ich bin ein sozialer Mensch. Ohne gegenseitige Unterstützung hört alles auf! Als Politikerin, erst recht als Regionalpolitikerin und auch mit Mitte siebzig, möchte ich greifbar sein für die Leute, möchte ich zur Verfügung stehen. So habe ich es immer gehalten.“        

Das ist bewundernswert und ein wenig verrückt. Denn die „rote Johanna“, wie sie sich selbst manchmal nennt, lebt in einer Art SPD-Museum. Nie sah ich in jemandes Wohnräumen so viel Rotes. Rotes im Detail, das erst nach einer Weile ins Auge fällt, wie in den Blumentöpfen steckende SPD-Fähnchen, rote Kaffeekannen, rote Vasen, rote Willy Brandt-Tassen, rotgerahmte Bilder. Aber auch viel großflächig Rotes – rote Zimmerwände, rote Überdecken auf roten Sesseln, ein fast ausschließlich mit roten Mänteln, Jacken und Taschen behangener Garderobenständer oder rote Kacheln im Badezimmer. Selbst Waschbecken und WC-Schüssel leuchten in Johannas Überzeugungsfarbe. 

Johanna Werner-Muggendorfer mit Willy Brandt-Tasse

Dass diese Orgie des Sozialdemokratischen mich nicht nervt, dass ich nie das Gefühl habe, in ein überdekoriertes, aus der Zeit gefallenes Kabinett geraten zu sein, erzählt viel über die Gastgeberin. Über ihre unbestreitbare Integrität. Auch über den Humor, mit dem sie sich selbst immer wieder auf die Schippe nimmt. Dass ihr im letzten Jahr ein junger Rabe zugeflogen war, den sie monatelang in der Garage aufzog und dort auch wohnen ließ, entlockt ihr die Bemerkung: „Mensch und Tier haben verstanden, dass sie hier versorgt werden. Mittlerweile bin ich wohl so etwas wie ein Unterschlupf.“ 

Und der Rabe, längst flügge, besucht sie weiterhin, frisst seiner Gönnerin aus der Hand:

Dass sie anders kann, dass sie im Laufe ihrer Karriere als Politikerin keineswegs nur der einfühlsame, sich kümmernde Gutmensch gewesen ist, berichtet sie selbst.

Von Anfang an musste sie sich als SPD-Abgeordnete in Bayerns Parlament ein „dickes Fell“ zulegen. Beim Reden über die damaligen, schwer erträglichen und meist männlichen politischen Gegner kommt sie auch auf den jungen Markus Söder zu sprechen, mit dem sie in mehreren Ausschüssen zu kooperieren hatte. Ich glaube erst, mich verhört zu haben, aber sie hat ihm tatsächlich Prügel angeboten:          

Ist der heutige bayerische Ministerpräsident noch „hart und unerbittlich“?

Ich möchte es herausfinden und besuche im Januar 2025 einen CSU-Neujahrsempfang im Stadtsaal von Fürstenfeldbruck. Hinter der Sicherheitskontrolle erhalte ich ein parteiblaues Armbändchen und schaue dann aus Reihe sieben zur Bühne. Der Saal ist voll, die Stimmung gelöst. „Deutschland wieder in Ordnung bringen“ lautet der Slogan des Abends. Zunächst gibt es Blasmusik. Dann darf die CSU-Stimmkreisabgeordnete, Frau Staffler aus der Gemeinde Türkenfeld, sich am Vorprogramm beteiligen. Sie ruft das Erwartete, Übliche engagiert in die Menge. Es fallen Schlagworte wie Heimat, Krise, Politikwechsel, Sicherheit, Wohlstand. Sie ist eloquent, bedankt sich bei ihren Unterstützern, zählt sie auf. Als aufstrebende Vorrednerin scheint sie alles richtig zu machen. Fast alles. Denn als der „liebenswerte Markus“, so kündigt sie ihren Parteichef tatsächlich an, schließlich hinters Rednerpult tritt, rüffelt er sie als Erstes. Es ist zum Fremdschämen. Sie hätte, stellt er grinsend, aber doch unmissverständlich klar, bei der Reihenfolge ihrer Danksagungen gepatzt! Sollte einem Ministerpräsidenten, der sich zu ihrer Unterstützung extra nach Fürstenfeldbruck bemüht, nicht als Erstem gedankt werden?  

Nach diesem unterhaltsamen Einstieg absolviert der Mann sein Nummernprogramm. Und es wird noch unterhaltsamer! Pointiert hangelt er sich eine Stunde lang durch wahlrelevante Themen, spricht von „schleichender demokratischer Erosion“, „wackelndem Wohlstand“ oder „behördlichen Umweltwahn“, dem etwa das ungestörte Geschlechtsleben der Haselmaus wichtiger sei als die Erweiterung einer fränkischen Westernstadt. Wenn lauthals gelacht wird, wenn das Publikum tobt, scheint er sich am wohlsten zu fühlen und setzt noch einen drauf. Sein Satz „In jeder bayerischen Kleinstadt steckt mehr Verstand als im Berliner Regierungsbezirk“, der es am nächsten Morgen auf die Titelzeile des Lokalblattes schafft, ist dafür typisch. Eine lustige, gern auch ein bisschen dämliche Zuspitzung folgt auf die nächste. Politik, meint dieser routinierte Kabarettist von der CSU, darf vor allem nicht langweilig sein. Vor der Langeweile, vor dem Verdacht, selbst langweilig zu sein, scheint er größte Angst zu haben und es wäre psychologisch aufschlussreich herauszufinden, warum das so ist.

Natürlich habe ich mir vor diesem Abend ein paar Videos auf seinen Social-Media-Kanälen angeschaut. Söder und das große Söder-Osterei aus Schokolade. Söder und der Söder-Weihnachtspullover. Söder beim Döner-Essen, Söders neuer Bart usw. Warum schaffen es die Selbstverliebten, die vor allem an sich selbst interessierten Charaktere so oft in Führungspositionen, an Schaltstellen des Gemeinwohls, frage ich mich mal wieder. Und habe zur Abwechslung eine traurig-konkrete Antwort:

Weil die gute Johanna damals im Bayerischen Landtag nicht kräftig zugeschlagen hat. 😊

Johanna sieht das bestimmt anders.
Kennt sie Max Webers 1919 veröffentlichten politikwissenschaftlichen Klassiker „Politik als Beruf“? Den darin formulierten Anspruch hat sie, finde ich, verinnerlicht: „Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für Politiker: Leidenschaft – Verantwortung – Augenmaß.“

Bei einem Treffen kurz vor den Bundestagswahlen unterhalten wir uns noch einmal über Werte und Prägungen, frage ich sie in ihrem Arbeitszimmer, warum sie eigentlich ist, wie sie ist. Und hier kommt, am Ende dieser Erkundung, Johannas sehr persönliche Antwort:

PS: Ein weiteres Gespräch mit Johanna Werner-Muggendorfer im Sommer letzten Jahres kurz vor den drei Landtagswahlen ist ebenfalls in einem Blogbeitrag zu finden.