Fünf Wochen lang bin ich von München nach Berlin gegangen. So viel Leben. So viele Begegnungen und Themen, die nachwirken. Weiß ich jetzt mehr? Gibt es womöglich etwas, das den Namen Erkenntnis verdient?
- Die Art der Erinnerung
Im Unterschied zu anderen Reisen kommen mir, wenn ich die Erinnerung schweifen lasse, vor allem Streckenverläufe in den Sinn. Intensiver noch als Stationen. Das finde ich seltsam. Mein Unterbewusstsein scheint meine Aufenthalte – all die mitreißenden Erlebnisse und Gespräche an den diversen Orten – geringer zu schätzen als mein Gehen. In Gedanken versunken gehe ich wieder Wege und Straßen. Ganze Tage lassen sich so in ihrer suggestiven Langsamkeit rekonstruieren. Ich überschreite Hügel nahe der Stadt X, blicke im Geiste erneut auf Landschaften und Wegdetails wie Bänke, Waldränder oder Bahndämme. Im Moment des Sehens kamen sie mir eher bedeutungslos vor.
Für dieses eigenartig selektive Nacherleben habe ich keine rechte Erklärung. Es empört mich im Grunde, dass meine Erinnerung das oft beschwerliche, langweilige Gehen den aufregenden Begegnungen mit Menschen vorzieht.
- Kommunikation
Anfangs schleppte ich mich keuchend voran. Litt auch unter Blasen. Ich verfluchte den Plan, während meiner 30-Kilometer-Etappen konzentriert Ausschau zu halten und ins Gespräch kommen zu wollen.
Es gab eine Situation am Nachmittag des zweiten Tages, in einem Dorf in der Hallertau. Ich sah eine ältere Dame. Sie saß vor einem Haus, etwa zwanzig Meter entfernt. Ihr offenes, kluges Gesicht vor dem Hintergrund gelber Rosen war eine Verlockung. Ein malerisches Bild. Und es gab keinen Zweifel, dass wir uns ausgiebig unterhalten würden. Aber sie saß zwanzig Meter abseits. In meinem von der Anstrengung verblödeten Zustand schien mir das zu viel.
Über diese vertane Gelegenheit habe ich mich hinterher sehr geärgert. Fortan redete ich mit jedem, der mir auffiel, den ich in Situationen beobachtete, die Fragen aufwarfen. Ich unterbrach Menschen beim Zaunstreichen, beim Lesen, beim Blumengießen. Ich setzte mich in Stammtisch-Runden, klingelte an Häusern mit originell gestalteten Fassaden, brachte es fertig, auf Strümpfen aus einer Gästewohnung zu stürzen, um jemanden anzusprechen, der auf der Straße OP-Kleidung trug.
Ein Gespür, das ich so noch nie genutzt hatte, bescherte Wunderbares. Fremde Menschen fassten Vertrauen, sahen in mir den durchreisenden Zuhörer und ließen mich teilhaben.
Vor Neustadt an der Donau begegnete ich eines Morgens zwei Frauen, die sich über eine Straße hinweg unterhielten. Die Konstellation elektrisierte mich. Ich lief durch den hin und her fliegenden Singsang einer mir unbekannten Sprache und fragte, ob ich Fotos machen könnte. Das wurde erlaubt. Danach redete ich lange mit der türkischstämmigen Asiye. Sie ist die Frau mit dem weißen Kopftuch.
Unser Austausch umkreiste vieles: ihre fünf Kinder, von denen drei studieren. Ihre Tätigkeit als Putzfrau im Kindergarten, den im Schichtmodus arbeitenden Ehemann, die alte „Heimat“ am Schwarzen Meer und das Haus, dass die Familie sich „hier um die Ecke“ im nächsten Jahr bauen wolle. Ein Thema, dass Asiye umtrieb, schien Kommunikation zu sein. „Wir reden alle zu wenig miteinander“, meinte sie. Dabei wirkte sie traurig und ratlos, ließ keinen Einwand gelten. „Wenn meine Kinder zu Hause sind, schauen sie nur auf ihre Handys. Ich habe es satt, ihnen das zu verbieten.“
An das Gespräch mit Asiye habe ich während der Wanderung mehrfach denken müssen. Es hat mich angespornt, auf Menschen zuzugehen.
- Stille und Menschenleere
Darauf war ich nicht vorbereitet. Man kann sich über den demografischen Wandel informieren. Man kann von der Überalterung unserer Gesellschaft, von alarmierend niedrigen Geburtenraten, von Deindustrialisierung und dem infrastrukturellen Notstand ganzer Landstriche wissen. Man kann die Zahlen kennen und den Schwund der jeweiligen Einwohnerschaft statistisch belegen können. Aber dann dort zu stehen, in einem konkreten Dorf, in einer konkreten Stadt, und die verrammelten, häufig schon zerfallenden Häuser zu sehen, durch die leeren Straßen zu gehen und die Stille selbst zu erfahren, ist etwas anderes.
Zweifellos gibt es territoriale Unterschiede. Doch wer glaubt, dass das Problem sich auf Regionen in Thüringen, Sachsen-Anhalt oder Brandenburg beschränkt, dem könnte ich Gegenden in Bayern nennen. Dort herrscht die nämliche Verlassenheit. Dort ist sie mir, auf meinem Weg – von München aus stetig nordwärts – überhaupt erst aufgefallen.
Meine persönliche Metropole dieses ungewissen Wartezustandes war Halberstadt. So herausgeputzt und zugleich bedrückend entvölkert wirkte auf mich kein zweiter Ort. Wer wird sich dort ansiedeln, wenn die Bewohner der zahlreichen Seniorenheime verschwunden sind? Wer wird dieser Kulisse wieder Leben einhauchen?
- Die Erfindung des Hybridwanderns
Der zu Hause entworfene Plan, am Ende eines Wandertages noch Sinnvolles verfassen zu können, erwies sich als Humbug. Abends wollte ich nur noch essen, einen Schlafplatz finden, regenerieren. Für den Schreiber in mir war das frustrierend. Jeder gefundene Einkaufszettel, jede Losung am Straßenrand, jeder mir unterkommende Buchstaben-Rest erinnerte mich an mein „Versagen“.
Anfangs versuchte ich nachts im Zelt, wo ich nie besonders gut schlafen konnte, die tagsüber ins Handy gehackten Notizen weiterzuspinnen. Das funktionierte einigermaßen, bekam allerdings weder meinen Augen noch meinem Kräftehaushalt. Ich begann etwas, das ich Hybridwandern nannte. Morgens brach ich zeitig auf und schrieb dann in der Mittagspause – auf einem Sportplatz, an einer Tankstelle, auf einer Bank im Wald – um nach zwei bis drei Stunden weiterzuwandern. In den extrem heißen Wochen legte ich am Nachmittag einen zweiten Schreibstopp ein. Mit diesem Wechselspiel ließen die Erlebnisse sich festhalten.
- Verstehenwollen
Nicht zuletzt wollte ich die Lage in Ostdeutschland ergründen. Zu wandern war meine Investition dafür. Eine harmlos wirkende Annäherung. Meine Maskerade mit Hut bewahrte mich schon rein äußerlich davor, auf „abgehängte Extremwähler“ herabzuschauen. Als gebürtiger Ostberliner hatte ich zudem keine Berührungsängste.
Ich erinnere mich an eine Szene hinter Erfurt: morgens saßen drei Männer beim Bier in einem Vorgarten, umgeben von leeren Flaschen und Müll. Das Radio dröhnte. Die drei schwiegen. Im Grunde saßen sie nicht einmal zusammen. Ihr Trinken, ihre gezeichneten Gesichter und die Apathie waren das Gemeinsame. Zunächst ging ich an ihnen vorbei, fasste mir ein Herz, und kehrte um.
Erstaunlich war ihre große Freundlichkeit. Mir wurde Bier angeboten, eine Abkürzung über die Felder empfohlen, auch erlaubt, zu fotografieren und zu filmen. In der dreiviertel Stunde, die ich bei Ihnen verbrachte, rangen in mir zwei Kräfte. Einerseits glaubte ich, auf etwas Typisches gestoßen zu sein. Ins Extrem gesteigert, aber doch exemplarisch. Andererseits beschlich mich das ungute Gefühl, zum Voyeur zu werden. Größtenteils redete ich mit Uli, dem Raucher am Tisch, den ich schließlich auch interviewte. Immer wieder verdrehte und verschloss er die Augen. War er krank? Oder müde? Kam es durch den Alkohol? Irritiert dachte ich plötzlich, dass meine Herangehensweise falsch sein könnte. Uli sagte ein paar wilde Dinge. Aber wenn es um das Thema Migration oder seine Erwartungen an Politiker ging, wirkte er reflektiert. Er mochte verbittert und angetrunken sein, aber als Thüringer Dorfdepp stand er nicht zur Verfügung. Das war die Lehre, die er mir erteilte.
- Anarchie
Pausen gehören zum Wandern. Mehrfach pro Tag landete ich irgendwo im Gras. Für mich waren es Gelegenheiten, hintenüber zu kippen und in den Himmel zu schauen. Ich erinnere mich an einen langen, leuchtenden Kondensstreifen in Franken, an vorüberjagende Wolken in Sachsen-Anhalt, an die wohltuende Brise auf einer Anhöhe in Brandenburg. Während der Wanderung bin ich, trotz aller Berichterstattung, fünf Wochen lang weg gewesen. Ohne Routine. Vor allem in Ruhemomenten empfand ich das als beglückend. Mein Nomadentum, phantasierte ich vor mich. Und noch immer träume ich von so nie erlebten Unterwegs-Situationen, übernachte ich unter riesigen Brücken, wandere auf dem Grünstreifen der Autobahn, verpasse irgendwelche Abzweige. Warum ist das so? Werden diese Träume irgendwann aufhören?
- Das eigentliche Wunder
waren die Begegnungen.
Es gab auf dieser Reise Prüfungen. Tage, die schlimm loslegten und dann mächtig zurückruderten. Als wäre im Geheimen eine ausgleichende Kraft am Werk.
Am Ende eines solch exzentrischen Tages – vor einem Wald, in dem ich mich schon wieder mein winziges Zelt aufschlagen sah – versicherte mir eine Dame, die auf der Terrasse ihres Bungalows gerade den Tisch deckte, dass ich selbstverständlich bei ihrer Familie übernachten könne, dass dies ein „offenes Haus“ sei. Im Übrigen gäbe es gleich Abendessen.
Menschen wie sie traf ich in diesen fünf Wochen immer wieder. Wie ich es vorgehabt hatte, erkundigte ich mich nach ihren Glücksvorstellungen. 19 x durfte ich die Antworten per Handy mitschneiden. Als Glücksinterviews sind sie in diesem Blog anzuschauen.
- Tiere
Ich kann es nicht wirklich erklären, aber auf einer Ebene, die mit dem ständigen Draußensein zu tun haben muss, fühlte ich mich Tieren verbundener als sonst. In den Momenten passierte gar nicht viel, aber die Bilder davon sind geblieben. Der Esel, dem ich von meinem Apfel abgab und der danach die Hufe hochwarf und IA-schreiend über die Wiese galoppierte. Zwei Eisvögel, die über der Saale aufblitzten. Oder ein Maulwurf, der während des Interviews mit der Gänsehüterin Christine plötzlich aus der Erde kroch. Und natürlich der Wolf. An einem regnerischen Morgen stand er im Wald bei Bad Belzig vor mir auf dem Weg. Etwa zwei Sekunden lang sahen wir uns an. Dann verjagte ihn mein Wunsch, ein Foto machen zu wollen.
- Nachtrag
Eine meiner erwachsenen Töchter ruft mich selten an. Während der Wanderung aber meldete sie sich zu meiner Freude wöchentlich. „Wie kommts?“ wagte ich zu fragen. Ich bin nicht sicher, wie die Antwort gemeint war, aber sie kam rasch und klang trocken: „Damit ich dich nicht vergesse.“