Seit einer Woche durchwandere ich ein Bundesland, das ich seit Kindertagen kenne. Ich habe nahe Verwandte hier, war erst im Frühjahr zu Besuch.
Als Wanderer erlebe ich Thüringen neu. Vor allem bin ich langsam. Menschen, Landschaften und auch Politisches begegnen mir unvermittelt. Als Erlebnis, Gespräch und Episode. Der sonst so übliche Zeitdruck, der vieles unsichtbar werden lässt – ich versuche ihn buchstäblich zu umgehen.

Mit meinem Monstrum von Rucksack bin ich im fränkisch-thüringischen Grenzgebiet herumgesstromert, habe an der Saale nahe Linkenmühle in den umliegenden Dörfern mit vielen Leuten gesprochen. Bin nach Rudolstadt gekommen, um dort das Wochenende der Wahl zu verbringen. Danach ging es weiter Richtung Erfurt.
Während ich dies schreibe, sitze ich im Innenhof des Benediktinerklosters Werningshausen, einige Kilometer vor meinem nächsten Ziel Sondershausen.

Kloster Werningshausen

Kann ich ein Thüringen-Fazit bieten? Eine Erklärung für dieses Wahlergebnis, quasi aus dem Gehen heraus? Irgendetwas, das nicht auch den Medien zu entnehmen wäre?
Ich glaube schon. Meine Antwort ist uralt, profan und persönlich. Sie lautet: Zuhören! Sich einlassen, sich von jedem Gegenüber zunächst einmal mitnehmen lassen. Und erst dann werten. Vielleicht auch: gar nicht werten.

In der internationalen Kommentierung der Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen gefiel mir besonders eine Empfehlung des britischen „Guardian“, die ich hier frei zitiere: Deutsche Politiker, schaut über den Tellerrand! Dorthin, wo das Hinschauen weh tut.

Der Tenor derer, die in Thüringen blau gewählt haben, lautet: „Wir sind völlig im Arsch, und es interessiert niemanden.“ Nur noch diese eine Partei würde sich interessieren. Ob deren Vertreter es als politisch Gestaltende allerdings besser hinbekämen, sei unklar. Das haben tatsächlich alle AfD-Anhänger, mit denen ich gesprochen habe, eingeräumt.

Es gibt ein Thüringen für politische Voyeure. Es gibt Uli und Klaus-Dieter und Wiegand-Reimund in einem Städtchen bei Erfurt. Sie sitzen vormittags beim Bier neben der Straße. Sie sind überzeugte AfD-Wähler und bedienen, so wie sie dort sitzen, jedes Klischee. Gerade deshalb war es für mich als Wanderer spannend, mit ihnen zu reden.
Unten ein Auszug.

Gespräch mit drei Herren bei Erfurt

Wegen meines unverzeihlichen Zögerns, Uli ein Mikrofon anzustecken, ist die Aufnahme leider eine akustische Katastrophe. Ich bitte dies zu entschuldigen!

Aber auch in denen, die nicht am Straßenrand sitzen, hat sich ungeheure Wut aufgestaut. In den Thüringer Dörfern durch die ich gewandert bin, herrscht eine bedrückende Stille, die es ähnlich sicher auch in fränkischen Dörfern gibt. Aber auf Nachfrage reagieren die Bewohner Thüringens meiner Erfahrung nach verzweifelter. Sie schimpfen über Probleme mit existentieller Kraft. „In unserem Dorf ist es nicht mehr schön. Alles geht den Bach runter“, offenbarte mir eine hart arbeitende 63-jährige Pensionswirtin. Der nächste Supermarkt, die nächste Schule befänden sich zwanzig Kilometer entfernt. Das ebenfalls zwanzig Kilometer entfernte Krankenhaus würde demnächst schließen. Viele leben von 800 Euro im Monat. Die Jugend würde so schnell wie möglich wegziehen. „Selbst Ausländer kann ich als Arbeitskräfte hier nicht herlocken, weil der Mobilfunkempfang so schlecht ist“, stöhnt sie. Wenn ich als Pensionsgast mit dem Handy telefonieren wolle, wüsste sie eine „recht gute Ecke“ bei den Garagen.

Einerseits nervt das Unterversorgtsein. Andererseits der „Wasserkopf der Bürokratie“. Allgegenwärtige Auflagen, komplizierte, immer kleinteiliger werdende Regularien, die die dringend nötige unternehmerische Initiative verhindern. Als wäre der Stillstand von Amts wegen erwünscht.
„Wir brauchen wohl einen Staatsbankrott, eine Art Zusammenbruch, der alles auf Null fährt, damit wieder etwas anfangen kann“, höre ich eine berühmte Erfurter Gastronomin sagen. Mit nur schwachem ironischen Unterton. Und weil sie so gefragt ist, führte ein Berliner Moderator am Tag eins nach der Wahl mit ihr ein Radiointerview. In diesem Interview wurde ihr die bezeichnend lauernde Frage gestellt, ob sie Björn Höcke als Gast ihres Restaurants eigentlich bedienen würde.

Menschen wollen gern zurückschauen, wollen ihre Biografie bejahen können.
Als feldforschender Wanderer bin ich in Thüringen bei diversen Gelegenheiten und thematischen Anlässen auf eine Verklärung der DDR gestoßen, auf eine Vergesslichkeit, die mich traurig macht.

Hier unterhalte ich mich mit meinem Freund und Mitwanderer Steffen Mensching über das Konzept des Wanderns. 

Eine Dorf-Wahlveranstaltung der AfD verließ ich bald wieder. Ich wollte die Stimmung eher in den angrenzenden Straßen erkunden. Dort saßen Menschen mitunter wie aufgereiht hinter ihren Gartenzäunen. Sie schienen zu den blauen Sonnenschirmen lieber hinüberlauschen als darunter stehen zu wollen.
In einer solchen Gruppe von Nachbarn ereiferte sich eine Frau über die Grünen. Habeck & Co. sind für viele Thüringer offenbar das politische Feindbild Nr. 1. „Schauen Sie nur, wie kaputt unser Wald aussieht! Borkenkäfer und Trockenheit hin oder her. Zu DDR-Zeiten ist im Sommer der Hubschrauber mit der Chemiekeule rübergeflogen und Schluss wars mit den Käfern“, wird mir erklärt. Dann schimpfen sie gemeinschaftlich los über die abgehobenen Politiker in Berlin. Auf die AfD würden alle nur draufhauen und sie bei jeder Gelegenheit schlecht machen. „Aber diese Partei kommt von unten. Das sind wir. Gehören wir nicht zu Deutschland?“
Ein weiterer Satz aus dieser Gruppe von Nachbarn bleibt mir in Erinnerung: „Politik ist für die meisten Politiker nur noch ein gutbezahlter Job und keine Herzensangelegenheit mehr!“

Den Wahlsonntag verbringe ich in Rudolstadt. Frühmorgens beim noch leeren Bäcker am Marktplatz mahnt mich die Bäckerin: „Setzen Sie Ihr Kreuz bitte an der richtigen Stelle. Wir sind eine weltoffene Stadt. Wir brauchen Touristen, verstehen Sie?!“
Die Enttäuschung unter Demokraten ist am Abend riesig. Selbst wenn es eine „Wahlkatastrophe“ mit Ansage ist. In einer Runde von SPD-Anhängern im Schiller-Haus lassen viele die Köpfe hängen und blicken dann doch auf einen aufgeklappten Laptop mit den aktuellen Hochrechnungen.

Am nächsten Tag wandere ich weiter, darf kühle Waldluft atmen. Von der Schockstarre in der Stadt erfahre ich nur aus Erzählungen. Um irgendetwas zu tun, höre ich, sind einige Schauspieler des Theaters im Stadtzentrum zusammengekommen, haben Musik gemacht.

Auch mit Pater Franz, dem streitbaren Abt des Benediktinerklosters Werningshausen, unterhalte ich mich über Politik. Er ist seit 51 Jahren in diesem Kloster und steht zugleich der Gemeinde des Ortes vor. Einige seiner auf der Homepage des Klosters veröffentlichten Predigten erreichen fast fünfzigtausend Klicks.  
Aus bewusst überparteilicher Perspektive äußert er sich hier über den Umgang mit Andersdenkenden.
Auch hier stelle ich wieder zwei Teile des längeren Gesprächs zur Verfügung:
1. Pater Franz über die Wahl und die politische Situation
2. Pater Franz darüber, Menschen nicht zu kategorisieren 

Thüringen war für mich immer mehr als braungegrillte Rostbratwürste.
Ich gehe weiter im Schmerz.

5. September 2024